Barcelonas Superblocks am Ende?

Autos raus aus den Vierteln, Straßen verwandeln in Lebensraum – mit diesem Plan galt Barcelona weltweit als Vorbild. Jetzt steht diese Vision vor dem Aus

s. SZ vom 15.09.23

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Prachtvoll? Nein. Idyllisch? Schon eher. Auf jeden Fall wirkt sie freundlich und einladend an diesem Morgen, die Calle del Consell de Cent, eine der Querachsen in Barcelonas zentralem Stadtviertel Eixample nordwestlich der Altstadt.
Und vor allem: Es ist auffallend ruhig hier. Von der linken bis zur rechten Häuserzeile verläuft ein einziger breiter Bürgersteig, nur unterbrochen von Sitzbänken und frisch gepflanzten Bäumen. Auf einer Kreuzung liegen organisch gerundete Steinbrocken wie in einem überdimensionalen Zengarten. Noch vor einigen Monaten fuhren hier mehrspurig Autos durch.
„Una maravilla“, schwärmt Daniel Nivel, der den Kiosk an der Ecke von Calle Consell de Cent und Carrer del Bruc betreibt, „ein kleines Wunder“. Jetzt kämen viel mehr Leute vorbei, auch die Älteren aus den Parallelstraßen, weil sie keine Kreuzung mehr überwinden müssen. Eine Gruppe palavernder Senioren nickt zustimmend, ebenso wie ein amerikanischer Einwanderer, der gerade seinen Hund spazieren führt. „Viel besser als vorher!“
Doch die Freude der Anwohner könnte von kurzer Dauer sein. Vor wenigen Tagen hat eine Richterin des 5. Verwaltungsbezirks entschieden: Die Consell de Cent muss zurückgebaut werden, alles wie vorher, inklusive der Autos. „Una locura“, eine Verrücktheit, findet Kioskbetreiber Nivel.
Dabei geht es um viel mehr als diese eine Calle. Sie ist nur ein Bruchteil dessen, was entstehen sollte: ein urbaner Archipel aus Stadtinseln, Superilles auf Katalanisch, im Deutschen und Englischen weniger charmant als „Superblocks“ adaptiert.
21 Straßen allein in Eixample, dessen schachbrettartig angeordnete Häuserblocks sich vom Bahnhof Sants in nordöstlicher Richtung bis über die Sagrada Familia hinaus erstrecken, wollte die einstige Bürgermeisterin Ada Colau in menschengerechteren Lebensraum verwandeln. Der Plan sah vor, Fahrzeuge auf größere Verkehrsachsen zu konzentrieren und nicht mehr eintauchen zu lassen in das Geflecht der je etwa neun Blocks großen Stadtinseln. Darin sollten sich Bürger abgas- und unfallfrei bewegen können.
Weltweit wurde das Konzept diskutiert, oft bewundert, teils kopiert. In Wien heißen die Superilles Supergrätzl, in Berlin Kiezblocks. Doch ausgerechnet in der einstigen Vordenkerstadt Barcelona zerplatzt der Traum gerade wie eine Seifenblase. Das liegt keineswegs nur an dem jüngsten Gerichtsurteil – das kann und wird wohl angefochten werden. Doch mit Ada Colaus Abtreten nach den Regionalwahlen vom 28. Mai hat das Projekt die wichtigste Fürstreiterin verloren.
Adas Nachfolger, Jaume Collboni, der mit einem Stimmenanteil von weniger als 20 Prozent als Kompromisskandidat ins Amt stolperte, hatte die Superilles schon zu Colaus Zeiten kritisiert. Er will nun auf den Umbau weiterer Straßen verzichten und lieber Innenhöfe begrünen.
Und dann gibt es da noch den mächtigen örtlichen Einzelhandelsverband Barcelona Oberta. Dessen Chef Gabriel Jené Llabrés wettert seit Jahren gegen die Superilles. Sein Verband hatte auch die Klage angestrengt, die nun entschieden wurde. In Jenés Rechnung sind Autos gleich Kunden. Dass ein Kaufhaus mit eigenen Parkplätzen von den Superilles nicht betroffen wäre, unterschlägt er geflissentlich.
In dieser Gemengelage wird der Aufschrei von Bürgern und Bürgerinitiativen wie „Eixample Respira“ (Eixample atmet) nicht helfen. Der war zwar nach dem Gerichtsurteil so laut, dass sogar der Einzelhandelssprecher am nächsten Tag zu beschwichtigen versuchte: Auf den Rückbau der Calle del Consell de Cent werde man nicht bestehen. Aber weitere Fußgängerzonen? Auf keinen Fall. Dabei sind Betroffene wie der Kioskbetreiber Nivel überzeugt, dass viel mehr Menschen vorbeikommen, seit seine Calle autofrei ist. Auch Touristen, und diese brächten doch gutes Geld. Ja, der Buchhändler habe sich beklagt, der hatte wohl Kunden, die mit dem Auto kamen. „Aber die Dinge ändern sich eben“, sagt Nivel.
Manches scheint sich jedoch nicht zu ändern, so auch Spaniens Faible fürs Auto. Das heißt: fürs Autofahren, denn die Zuneigung gilt weniger dem Fahrzeug an sich, Autowaschen am Sonntag ist keine mediterrane Freizeitbeschäftigung. Aber die Vorstellung, nicht jede Stelle ihrer schönen Halbinsel mit dem coche anfahren zu können, ist vielen Spaniern doch fremd. Deshalb müssen sich Fußgänger in der Unesco-geschützten Altstadt von Úbeda genauso dicht an die Hauswand drücken wie im malerischen Bergdorf Grazalema, wenn ein Auto durch die Gasse kommt.
Wo die Prioritäten in Barcelona liegen, machte unterdessen auch die neue Vizebürgermeisterin klar: Für die Stadtplanung müsse man Formeln finden, „ohne das Auto anzutasten“, sagt sie.
Auch in Valencia, wo im vergangenen März ein erster von den Superilles inspirierter Häuserblock eingeweiht wurde – hier als Supermanzana bezeichnet –, sind die Pläne zum Stillstand gekommen. 200 000 Quadratmeter sollten dort verkehrsberuhigt werden. Mit den Wahlen vom 28. Mai ist das Bürgermeisteramt nun in die Hände der konservativen María José Catalá gefallen, und die neue Chefin hat eine schlichte Begründung für den Stopp: „No me gusta“, die Sache gefällt ihr schlicht nicht. Die bereits umgestaltete Pilotstraße komme ihr vor wie eine stinknormale plaza, mit angemaltem Boden.
Dass es bei den Superilles um weit mehr geht, oder ging, als um angemalte Fußgängerzonen, bescheinigt sogar die Weltgesundheitsorganisation WHO. Ihr zufolge stärkt das Superblocks-Konzept das Wohlbefinden und beugt Krankheiten vor. Eine statistische Analyse habe sogar gezeigt, dass allein die ersten Umbauten in Barcelona 700 Menschenleben verlängert hätten. Aber solche Argumente zählen nicht, wenn der Einzelhandelsverband attackiert und bombastische Umsatzverluste prophezeit, für den Fall, dass Autos nicht mehr durch jede Straße strömen.
„Was können wir von Barcelona lernen?“, titelte die New York Times im Jahr 2016, als die visionären Pläne aus Katalonien publik wurden, und skizzierte, wie sich Superblocks auf Manhattan übertragen ließen. Die Antwort auf die Frage lautet nun: eher wenig.
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